ADHS – Zwischen Relativierung und Stigmatisierung

Von Luiza Johannsen

ADHS wurde bei mir bereits als Kind diagnostiziert. So richtig annehmen wollte und konnte ich die Diagnose jedoch nicht. Denn ich war doch nicht gestört oder krank. Ich war ganz normal! Also zumindest für meine Verhältnisse. Ich kenne mich ja immerhin nicht anders.

Mein Denken, Wahrnehmen und Handeln, meine Bedürfnisse bilden meine individuelle Normalität ab. Ja, ich merkte immer wieder Diskrepanzen zu anderen Menschen. Fragte mich, warum anderen manche Dinge scheinbar mühelos gelangen, die für mich eine gefühlt unüberwindbare Hürde darstellten. Trotzdem lehnte ich ADHS als Pathologie ab. Teilweise aus Angst vor Stigmatisierung und sicherlich auch aufgrund von Selbststigmatisierung. Hauptsächlich aber, weil es sich nie richtig anfühlte und ich eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung nicht in mein Selbstbild integrieren konnte.

An der Uni lernte ich dann das Konzept der Neurodiversität kennen. Der Ansatz, dass ADHS keine pathologische Normabweichung darstellt, sondern stattdessen eine Normvariante, die halt teilweise andere Wahrnehmungen, Bedürfnisse, Fähigkeiten und Herausforderungen beinhaltet, als es bei neurotypischen (sprich kollektiv als „normal“ geltenden) Menschen der Fall ist, faszinierte mich direkt. Dieser Ansatz half mir dabei, „mein“ ADHS besser zu verstehen. Und vor allem: Es zu akzeptieren.

Voll Euphorie wollte ich mich auch mit anderen neurodivergenten Personen darüber austauschen. Dabei fiel ich jedoch ziemlich auf die Nase und stellte fest, dass einige ADHSler:innen den Neurodiversitätsansatz durchaus kritisch sehen, ihn sogar als Relativierung ihres Leidens und als stigmatisierungsfördernd empfinden. Ich war verunsichert und geriet ins Grübeln und Reflektieren. Schließlich wollte ich nie irgendetwas relativieren oder romantisieren, geschweige denn stigmatisieren, sondern ein weniger starres Normalitätsverständnis und Entstigmatisierung. Nach anfänglicher Irritation war mein Interesse geweckt: Warum wird die Debatte über ADHS als Störung oder Normvariante in sozialen Medien so kontrovers diskutiert? Was sind die unterschiedlichen Argumentationsansätze? Um das zu beantworten, führte ich für die Mitgliedszeitschrift neue AKZENTE von ADHS Deutschland e. V. eine sogenannte kritische Diskursanalyse nach Jäger durch. 1

Zusammenfassend stellte ich fest, dass auf beiden „Seiten“ (also Vertreter:innen einer neurodiversen sowie einer pathologischen ADHS-Definition) „der Wunsch nach gesellschaftlicher Akzeptanz und Entstigmatisierung“ (Johannsen 2023, S. 13) besteht. Die Lösungsansätze, wie dies erreicht werden kann, variieren jedoch. Und an diesem Punkt gehen die Meinungen auseinander und die kontroverse Debatte beginnt: In neurodivers ausgerichteten Argumentationsansätzen werden vor allem die Gesellschaft und Umgebungseinflüsse fokussiert und in der Verantwortung gesehen, in pathologisch ausgerichteten Kommentaren hingegen das betroffene Individuum (vgl. ebd.).

Um gesellschaftliche Stigmatisierung nachhaltig abbauen zu können, scheint jedoch eine mehrdimensionale Betrachtung von ADHS notwendig zu sein, worauf sowohl die Ergebnisse der von mir durchgeführten Diskursanalyse als auch mehrere Studien schließen lassen (vgl. ebd.). Ein einseitiges Verständnis von ADHS und die isolierte Betrachtung einzelner Perspektiven und Aspekte wird dem „Phänomen ADHS“ hingegen nicht gerecht (vgl. ebd.).

Mein persönlicher Appell lautet daher: Lasst uns ADHS nicht als schwarz-weiß, entweder-oder, Pathologie oder Neurodivergenz sehen, sondern als Grauton mit individuellen Schattierungen und mit Aufklärung, Verständnis und Toleranz zur gesellschaftlichen Entstigmatisierung beitragen.

  1. Den vollständigen Artikel kann man in der neuen AKZENTE Nr. 126 3/2023 (S. 4-14) nachlesen. ↩︎

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